Über Mütter, Überforderung und eine Tragödie, die niemand sehen wollte. Ein Interview mit Prune Antoine über Mutterschaft, psychische Belastung und gesellschaftliches Wegsehen.
- Redaktion
- 11. Apr.
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 1 Tag

Was bleibt von einer Mutter, wenn sie an ihren Aufgaben zerbricht – und wer trägt Verantwortung, wenn Überforderung in eine Tragödie mündet?
In ihrem neuen Buch „Eine Frau in Deutschland. Der Fall der Christiane K.“ rekonstruiert die französische Journalistin Prune Antoine einen wahren Kriminalfall – mit beeindruckender Klarheit, Empathie und kritischer Tiefe.
Prune Antoine sucht nicht nach Sensationen oder Schuldzuweisungen – sie interessiert sich für das System hinter den Einzelschicksalen: familiäre Gewalt, institutionelles Versagen, das Tabu der Überforderung. Und sie fragt, was von einer Frau bleibt, wenn niemand mehr hinsieht.
Wir haben mit Prune Antoine über die Entstehung ihres Buches gesprochen – über das Schreiben am Rand des Verstummens, über Mutterbilder in Deutschland und über die Frage, ob Hilfe manchmal einfach zu spät kommt.
Frau Antoine, bevor wir tiefer in Ihre Recherchen und das Schreiben eintauchen: Könnten Sie unseren Leser:innen bitte in wenigen Sätzen den Fall Christiane K. zusammenfassen? Was ist geschehen – und warum hat Sie gerade diese Geschichte nicht mehr losgelassen?
Wir befinden uns in Solingen, im Jahr 2020. Christiane K. ist 27 Jahre alt, als sie fünf ihrer sechs Kinder tötet und anschließend versucht, sich vor einen Zug zu werfen. Sie überlebt.
Zu dieser Zeit habe ich selbst eine zweijährige Tochter – wie alle Eltern während der Pandemie war ich völlig am Limit. x Ich musste arbeiten, mich um mein Kind kümmern, ich war erschöpft. Und ich war wütend.
Eines Tages gehe ich mit meiner Tochter im Kinderwagen durch Berlin und sehe eine riesige „Bild“-Schlagzeile: „Kindermörderin“. Dieses Wort hat mich schockiert – es klang wie aus dem Mittelalter, wie das Monster aus einem Märchen.
Zunächst habe ich den Fall mental zur Seite geschoben – ich war zu sehr damit beschäftigt, die Lockdowns zu überleben.
Ein Jahr später steht Christiane K. vor Gericht. Ihr Fall geht um die Welt: Fünf tote Kinder, eine junge, eher hübsche Angeklagte, die auf „nicht schuldig“ plädiert – ein Medienspektakel. Sie wird als kalt, manipulativ, narzisstisch dargestellt. Sie erhält eine lebenslange Haftstrafe.
Damals steckten wir noch mitten in der Pandemie, und mir erschien dieses Urteil extrem hart. Ich dachte: Eine alleinerziehende Mutter von sechs Kindern, mitten im Trennungschaos, während Corona – da muss es doch mildernde Umstände geben. Vielleicht Depression. Vielleicht Burnout.
Doch 2021 sprach noch niemand über die katastrophalen Folgen der Pandemie für die psychische Gesundheit von Müttern – und generell von allen, die betroffen waren. Obwohl im Gerichtssaal alle Masken trugen, wurde Corona während des Prozesses kaum thematisiert. Ich dachte nur: Da stimmt etwas nicht. Da fehlt etwas. So kam ich dazu, Kontakt mit ihrem Anwalt aufzunehmen.
Wie sind Sie auf den Fall aufmerksam geworden – und was hat Sie daran so gepackt?
Man sucht sich seine Themen nie zufällig aus. Es war fast etwas Körperliches, dass ich dieser Geschichte nachgehen musste – obwohl anfangs niemand etwas davon hören wollte. Weder Chefredakteure noch Verlage. Eine Mutter, die ihre Kinder tötet? Das verkauft sich nicht. Es ist ein Tabu. Es rührt an etwas sehr Tiefes: den Mythos der perfekten Mutter.
Irgendwann wurde mir klar, dass ich diese Geschichte nur erzählen konnte, wenn ich mich meinen eigenen Kämpfen als Mutter stellte – meinen Zweifeln, meiner Ambivalenz. Denn jede Mutter kennt dieses Gefühl: Manchmal ist man einfach am Ende, weiß nicht weiter, sehnt sich zurück in das alte Leben – frei, unbeschwert. Aber darüber spricht niemand.
Kaum jemand weiß, dass Suizid die häufigste Todesursache im ersten Jahr nach der Geburt ist. Kaum jemand weiß, dass das Wochenbett die Phase ist, in der Frauen am anfälligsten für psychische Erkrankungen sind. Diese Seite der Mutterschaft wird nirgends erzählt.
Gab es während Ihrer Recherche Momente, in denen Sie das Handeln dieser Frau nachvollziehen oder sogar verstehen konnten?
Das Schreiben war wie ein Drahtseilakt. Ich glaube damals wie heute, dass diese Frau das Urteil nicht verdient hat. Sie wurde zu einer Zeit verurteilt, in der wir erst anfingen zu begreifen, welche Auswirkungen sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt haben kann.
Ich wollte sie verteidigen – auch weil mich die Gewalt, die Christiane erlebt hatte – mutmaßlicher Inzest, nicht verfolgte Vergewaltigung, häusliche Gewalt – fassungslos machte. Diese ganze Spirale von erlebter, geduldeter, gesellschaftlich akzeptierter Gewalt hat mich wütend gemacht.
Es geht nicht darum, Christianes Taten zu entschuldigen – sondern sie einzuordnen in eine Gesellschaft, die mütterliches Aufopfern glorifiziert und jede Ambivalenz stigmatisiert.
Hatten Sie jemals den Impuls, ihr helfen zu wollen – oder war dieser Punkt längst überschritten?
Christiane war eine Frau, der nie geglaubt wurde. Niemand hörte ihr zu. Sie wurde durch die Wucht ihrer Tat zum Schweigen gebracht. Weil sie „nicht schuldig“ plädierte, wurde sie als Lügnerin abgestempelt. Die Medien haben sie lebendig begraben, das Justizsystem lebenslang weggesperrt.
Ich wollte ihr eine Stimme zurückgeben – und vor allem eine andere Version ihrer Geschichte erzählen. Denn hinter diesem Buch steht eine universelle Frage: Was heißt es heute, Mutter zu sein? Was heißt es, eine gute Mutter zu sein?
Sie nennen das Buch eine „Spurensuche“. Wie sind Sie journalistisch vorgegangen – und und wie sind Sie mit Momenten des Zweifels oder der emotionalen Überforderung umgegangen?
Persönlich war ich völlig von dieser Geschichte eingenommen, fast wie auf einer Mission. Zwei Jahre lang war ich umgeben von Gerichtsakten, Tonaufnahmen, Fotos von Christiane. Ich konnte mich beim Recherchieren zwar konzentrieren, doch jedes Mal, wenn ich meine Tochter ansah, wurde ich brutal in die Realität dieses Verbrechens zurückgeholt. Die Obduktionsberichte, die Beschreibungen der toten Kinder – es war schwer, eine Grenze zu ziehen.
Beruflich war es hart. Niemand wollte diese Geschichte: zu düster, nicht markttauglich. Ich habe monatelang allein weiter recherchiert, war oft frustriert, wollte mehrfach aufgeben. Schließlich konnte ich sie in Le Nouvel Observateur, dann in Zeit Verbrechen und in der Schweiz veröffentlichen.
Die Resonanz war stark – viele Leser:innen schrieben mir auf Instagram, eine Gefängnisleiterin in der Schweiz schickte mir sogar einen Brief, in dem sie sagte, Frauen würden nicht wie andere beurteilt. Das hat mich bestärkt. Ich habe weitergemacht. Recherchiert, geschrieben, durchgezogen. Und es gab die Briefe von Christiane. Der Moment, als sie mir ihr persönliches Tagebuch schickte – das war für mich ein Zeichen des Vertrauens und ein echter Kraftmoment.
Was war für Sie persönlich die größte Herausforderung während der Arbeit an diesem Stoff – juristisch, ethisch oder emotional?
Die größte Herausforderung war: wieder zu mir selbst zu finden – wie Alice im Wunderland. Es klingt vielleicht provokant, aber ich war völlig verloren in meinem eigenen Muttersein: der Druck, die Erwartungen. Ich wusste nicht mehr, woran ich mich festhalten konnte.
Ich konnte mit diesen Tradwife-Instagram-Welten und dem idealisierten Bild einer überglücklichen, hingebungsvollen Mutterschaft nichts anfangen – das wirkt auf mich wie eine Maskerade. Ich fragte mich ständig: Was stimmt nicht mit mir? Warum ist das alles so schwer?
Das Gespräch mit Christiane im Gefängnis – die, ironischerweise, eine „perfekte“ Mutter war und sich in ihrer Rolle wohlfühlte – half mir, mich selbst als Mutter wieder anzunehmen.
Ein zentrales Thema Ihres Buches ist das Mutterbild in Deutschland. Welche gesellschaftlichen Zuschreibungen haben Sie dabei besonders wahrgenommen?
In Deutschland verschwindet die Frau, sobald das Kind da ist. Zeit für sich selbst nehmen, arbeiten gehen, mal nicht präsent sein – all das wird schnell als schädlich fürs Kind bewertet.
Das Mutterideal stammt teilweise noch aus dem Nationalsozialismus und wirkt bis heute nach. Viele Pädagog:innen beziehen sich auf die Bindungstheorie der 50er-Jahre, als die meisten Frauen zu Hause blieben – um arbeitenden Müttern zu sagen, sie würden ihr Kind traumatisieren.
Ich spreche nicht mal vom Druck zu stillen, von der natürlichen Geburt mit Kräutertees und Gymnastikbällen, vom drei Jahre langen Zuhausebleiben. Deutschland ist das einzige Land, in dem man eine arbeitende Mutter „Rabenmutter“ nennen kann.
Die „Regretting Motherhood“-Debatte hatte aus genau diesen Gründen so eine Wucht. Ironischerweise war die ehemalige DDR da deutlich fortschrittlicher.
Während Corona hat Deutschland Maßnahmen getroffen, die Mütter zerschmettert haben – es war das einzige Land, das Schulen und Kitas neun Monate lang geschlossen hielt.
Aber das Thema geht über Deutschland hinaus: Mutterschaft muss neu gedacht werden – in all ihrer Ambivalenz. Persönlich, politisch, gesellschaftlich. Dieses „Du kannst alles haben“ funktioniert im aktuellen System nicht – es führt nur zu Erschöpfung und Scheitern.
Würden Sie sagen, Christiane K. ist auch ein Produkt überfordernder Mütterideale – oder war ihr Weg völlig individuell?
Auf jeden Fall. Christiane passte perfekt ins Bild der „perfekten Mutter“. Sie war weder nachlässig noch überfordert, noch depressiv – was ihre Tat umso rätselhafter macht.
Sie hatte diesen „brave Soldatin“-Geist à la Merkel – „Ich schaffe das“, nicht klagen, weitermachen. Ganz Trümmerfrau. Sie kochte weiter Bio, kümmerte sich hingebungsvoll – obwohl sie sechs Kinder hatte, allein war, isoliert, während einer Pandemie und in einer vermutlich missbräuchlichen Beziehung.
Sie war ein Opfer der gesellschaftlichen und juristischen Toleranz gegenüber Gewalt an Frauen. Warum wurde ihre Vergewaltigung nicht verfolgt? Warum wurden die Misshandlungen nicht angezeigt?
An ihrem Fall habe ich gezeigt, wie tief das Justizsystem geschlechtlich geprägt ist – nicht nur in den Gesetzen, sondern auch in den Gutachten und Urteilen.
Wie gelingt es Ihnen, in der Sprache so präzise und zurückhaltend zu bleiben – ohne zu bewerten oder zu dramatisieren? War das eine bewusste Entscheidung?
Absolut. Dieses Thema ist riskant – es wäre leicht gewesen, in Pathos, Rechtfertigungen oder moralische Urteile abzurutschen. Aber die Geschichte ist dramatisch genug. Ich musste so sachlich wie möglich bleiben.
Schreiben ist für mich wie Sezieren – wie ein Chirurg mit dem Skalpell. Bis auf den Knochen schneiden.
Wie gehen Sie als Autorin mit der Verantwortung um, eine Geschichte zu erzählen, in der sich manche Betroffene selbst nicht mehr äußern können?
Eine Journalistin muss bei den Fakten bleiben – eine Autorin kann sich auch auf Intuition und Vorstellungskraft stützen.
Entscheidend ist, der Realität so treu wie möglich zu bleiben – ganz gleich, mit welchen Mitteln. Für dieses Buch habe ich mich bewusst nicht entschieden: Fiktion war ein Weg, die Leerstellen zu füllen – dem eine Stimme zu geben, was verstummt ist. Es gibt nie die eine Wahrheit – nur unterschiedliche Perspektiven.
Glauben Sie, es gibt viele „Christiane K.s“ – Frauen, die in scheinbar normalen Kontexten unsichtbar untergehen? Und wo sehen Sie die größten blinden Flecken im System?
Viele glauben, Kindstötung sei selten. Das stimmt nicht. In Frankreich wurde 2022 laut Innenministerium alle zehn Tage ein Kind von seiner Mutter getötet. Diese Zahlen sind konstant – auch in anderen Ländern.
Kindstötungen sind die neuen Femizide – und gleichzeitig ein blinder Fleck in Politik, Gesellschaft und Justiz. Denn sie erschüttern die Grundlage unserer patriarchalen Gesellschaft.
Viele dieser Taten erzählen etwas über die Realität von Mutterschaft: mentale Last, ungleiche Arbeitsteilung, Einkommenseinbruch, Isolation, Perfektionismus, psychische Gesundheit, Wochenbettdepression.
Wir tun so, als müssten sich Mütter an die Gesellschaft anpassen – dabei sollte es umgekehrt sein.
Was wünschen Sie sich, dass Leser:innen nach der Lektüre mitnehmen? Gibt es eine Haltung, die Ihnen besonders wichtig ist?
Ein Buch ist wie ein Kind: Wenn es in der Welt ist, gehört es dir nicht mehr.
Mein Ziel war es, gute Fragen zu stellen – und ein Gespräch darüber anzustoßen, wie Frauen und Mütter in Deutschland gesehen und beurteilt werden.
Manche Leser:innen werden vom Thema abgeschreckt sein – aber es geht weniger um einen Kriminalfall als um eine kollektive Reflexion über Mutterschaft und Frausein. Daher auch der Titel.
Und zum Schluss etwas Persönlicheres: Was war Ihr ganz persönlicher „Glow Moment“ in den letzten Monaten?
Als meine Tochter lesen gelernt hat. Und ein paar Tage in der Chihuahua-Wüste.
Macht Sie das Muttersein glücklich – oder anders gefragt: Was bedeutet Glück in diesem Zusammenhang für Sie?
Mutter zu sein ist die überwältigendste Erfahrung meines Lebens. Ich habe nie etwas Schwierigeres getan. Aber wie ich im Buch schreibe: Meine Tochter hat mir die Welt geöffnet – zu anderen Menschen, zu mir selbst. Sie ist meine Lehrmeisterin.
Ja, ich bin oft eine abwesende Mutter, und ich kann keine Pfannkuchen machen – aber alles, was ich schreibe, führt zurück zu ihr.
Ich widme ihr jedes meiner Bücher. Mein Engagement für Frauen ist letztlich auch für sie.

Fotocredits: Chloé Desnoyers
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